Ist die Einschränkung unserer Grundrechte in der Coronakrise zu rechtfertigen?

Im Zuge der Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus wurden europaweit massive Eingriffe in die freiheitlichen Grundrechte getätigt. Diese fielen zwar sehr unterschiedlich aus, doch fast alle Staaten waren und sind noch immer betroffen. Mit dem Abklingen der Krisensituation, wie sie vor allem in Italien und Spanien zu beobachten war, werden Stimmen lauter, die sofortige Aufhebung der Beschränkungen fordern. Auf sogenannten „Hygiene-Demos“ demonstrieren Menschen für ihre freiheitlichen Grundrechte – an manchen Stellen werden Verschwörungstheorien ins Spiel gebracht. Auch der Deutsche Ethikrat hat dazu angehalten, stetig die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu prüfen. Es stellt sich also die Frage, ob eine so starke Einschränkung unserer freiheitlichen Grundrechte durch die Coronakrise überhaupt gerechtfertigt war und ist.

Die Funktionen unserer Grundrechte

Die Grundrechte dienen wesentlich in erster Linie zum Schutz der Freiheit des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt. Sie können somit durchaus als Abwehrrechte gegen den Staat bezeichnet werden. Gleichzeitig garantieren sie die freie Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger am staatlichen Gemeinwesen, beispielsweise durch Wahlen. Darüber hinaus legitimieren die Grundrechte allerdings auch den Staat zur Vorkehrung von Schutzmaßnahmen der grundrechtlich geschützten Freiheit. Ein entsprechender Anspruch auf staatliche Leistungen resultiert allerdings nicht aus den Grundrechten. [1]

Es ist an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass Grundrechte nicht schrankenlos gelten. In unserer Verfassung selbst werden dabei bereit einige Einschränkungen ausgewiesen. Begrenzungen können insbesondere dann auftreten, wenn Grundrechte miteinander oder mit dem Grundgesetz kollidieren. Bei entsprechenden Einschränkungen gilt es allerdings stets das Übermaßverbot zu beachten, sodass Grundrechte nur verhältnismäßig entsprechend einer gewissen Situation eingeschränkt werden dürfen. [1] Unsere Grundrechte sind also eben nicht unter allen Umständen grenzenlos gültig und über jede Situation erhaben, wie viele Protestbewegungen zu meinen glauben.

Einschränkungen freiheitlicher Grundrechte durch die Coronakrise

Nun gilt es zu klären, wie sich die Einschränkung unserer freiheitlichen Grundrechte durch die Coronakrise konkret äußert. Kritisiert wird vor allem der deutschlandweite „Shutdown“. Dabei wurde unter anderem das Recht auf Versammlungsfreiheit (GG Art. 8) für mehrere Wochen beschränkt. Kontakte sollten sich bundesweit auf den Haushalt oder höchstens eine andere Person beschränken. Durch die Einschränkung dieses Rechts ist ein weiteres Grundrecht betroffen, nämlich das der freien Ausübung eines Berufes (GG Art. 12). Durch das Verbot von Versammlungen können diverse Berufe ihre Tätigkeiten nicht mehr ausüben.

Weiterhin wurde die Bewegungsfreiheit (GG Art. 11) massiv eingeschränkt. Allerdings schränkt sich dieses Grundrecht bereits selbst in Absatz zwei ein, in welchem betont wird, dass „Dieses Recht […] zur Bekämpfung von Seuchengefahr […]“ eingeschränkt werden darf. Gern wird zusätzlich angeführt, dass die Freiheit des Glaubens (GG Art. 4) beschränkt sei. Dabei kann man sich höchstens auf eine mögliche Verletzung von Absatz zwei, nämlich der Gewährleistung „ungestörter Religionsausübung“ beziehen. Persönlich sehe ich die Glaubensfreiheit nicht gestört, denn jeder Gläubige kann seine Religion ebenso gut zuhause ausüben – Gebete oder Ähnliches wurden nicht untersagt. Viele Institutionen boten darüber hinaus digitale Gottesdienste an. Insofern ist es wohl eine Frage der Perspektive, ob man dieses Grundrecht als beschränkt sieht. Gehört ein Besuch des Gotteshauses zwanghaft zum Religionsverständnis, so kann man sich in seinem Recht freier Religionsausübung beschränkt sehen.

Die Gesamtheit all dieser Einschränkungen führt natürlich auch zu einem Konflikt mit den persönlichen Freiheitsrechten (GG Art. 2). In Absatz zwei wird allerdings auf einen wichtigen Umstand aufmerksam gemacht, der auch für die weitere Diskussion entscheidend ist: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Das hier genannte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit führt uns zur Ursache der Diskussion.

Konflikt Gesundheit und Freiheit

Um das eigentliche Problem zu verstehen, muss man sich den Grund für die Grundrechtseinschränkungen vor Augen führe: die Coronakrise. In dieser Situation kommt es zu einem Konflikt der Grundrechte. Das Coronavirus ist nachgewiesen für jeden Menschen potentiell tödlich und hinterlässt auch bei milden Verläufen häufig Folgeschäden in der Lunge und anderen Organen. [2] Da wir in Deutschland infizierte Personen haben, ergibt sich dadurch eine Ansteckungsgefahr für jeden Einzelnen. Dementsprechend bedroht das Coronavirus das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aller Bürgerinnen und Bürger. Unser Staat greift nun durch entsprechende Schutzmaßnahmen ein, um dieses Grundrecht zu bewahren. Möglich sind Eindämmungsmaßnahmen allerdings nur mit der Einschränkung von freiheitlichen Grundrechten, was zu einem moralischen Dilemma führt.

Einschränkung Grundrechte Coronakrise
Demografische Daten und Symptome/Manifestationen COVID-19-Erkrankter in Deutschland (Stand 14.05.2020). Quelle: RKI

Interessanterweise sollte man sich vor Augen führen, dass dieser Konflikt auch in unserem Alltag stattfindet. Beim Stehen an einer roten Ampel wird auch unser Grundrecht auf Freizügigkeit eingeschränkt. Natürlich würde man gern einfach weiterfahren, allerdings verbietet es die Straßenverkehrsordnung zum Schutz der Sicherheit aller. Verstößt man gegen diese Beschränkungen, kann ebenso – wie derzeit angesichts der Schutzverordnungen üblich – eine Strafe verhängt werden. Freilich kann man nun sagen, dass wochenlange Beschränkungen etwas ganz anderes bedeuten als das Stehen an einer roten Ampel. Gehen wir hierbei einen Schritt weiter: die Geschwindigkeitsbeschränkungen gelten rund um die Uhr und sicher würde man in der Stadt und auf der Landstraße manchmal gern etwas mehr aufs Gas treten. Zeitlich gesehen dürfte das Fahren unter Auflage einer Geschwindigkeitsbegrenzung somit wohl bei vielen Menschen den wenigen Wochen der jetzigen Beschränkungen überwiegen.

Solche Beschränkungen der Grundrechte in unserem Alltag finden sich zuhauf. Paradoxerweise nehmen wir solche als Garant für unsere Sicherheit ohne weitere Kritik hin, während bei einer äquivalenten Einschränkung zum Schutz unserer Gesundheit demonstriert wird. Sieht man von wirtschaftlichen Folgen ab, ist dies nur schwer nachzuvollziehen.

Aufrechterhaltung freiheitlicher Grundrechte in der Coronakrise

Natürlich gibt es trotzdem Stimmen, die die Entscheidung des Staates kritisieren, die Gesundheit über die Freiheit der Menschen zu stellen. Zumeist wird dies aus dem Grund geäußert, dass man selbst seine entsprechenden Freiheiten wahrnehmen möchte. An dieser Stelle möchte ich von allen kruden Verschwörungstheorien oder Ähnlichem absehen.

In Bezug auf die Freiheit möchte ich kurz ein rein logisches Argument zur Sprache kommen lassen, das die Priorisierung der Gesundheit möglicherweise ein Stück weit begründen kann. Gehen wir davon aus, dass Covid-19 unserer körperlichen Unversehrtheit schaden kann. Nun führen wir uns vor Augen, dass wir unsere Freiheiten nur körperlich unversehrt ausüben können. An dieser Stelle ist also logisch zu schlussfolgern, dass Covid-19 unsere Freiheit bedroht – nicht der Schutz der Gesundheit. An ein Beatmungsgerät gefesselt, mit Lungen- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder gar tot können wir unsere Freiheiten auf Dauer überhaupt nicht mehr oder nur begrenzt in Anspruch nehmen. Die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz hingegen sind zeitlich begrenzt, sodass sie selbst die freiheitlichen Grundrechte in bestimmter Hinsicht schützen.

Weiterhin sollte man berücksichtigen, dass es verhältnismäßig zu anderen Staaten in Europa nur eine sehr milde Einschränkung unserer freiheitlichen Grundrechte aufgrund der Coronakrise gab. Schaut man beispielsweise nach Italien oder Frankreich, in denen teils sehr strenge Ausgangssperren herrschten, erscheinen unsere Kontaktbeschränkungen doch sehr human. Insofern wurden uns in Deutschland vergleichsweise sehr viele Freiheiten aufrechterhalten, die in anderen Staaten nicht mehr gegeben waren. Die Wirksamkeit der Maßnahmen bestätigt außerdem die Berechtigung der Maßnahmen. Rechtlich legitimiert werden die Eingriffe außerdem durch das Infektionsschutzgesetz (IfSG §28).

Schlussworte

Man kann an dieser Stelle festhalten, dass unsere Grundrechte eine ganz besondere Stellung haben und ihre Aufrechterhaltung unter allen Umständen anzustreben ist. Dennoch gelten sie nicht unbegrenzt, da bestimmte Krisensituationen eine Einschränkung erfordern, um größeres Leid zu verhindern. Die Coronakrise sollte hinreichenden Anlass dazu geben, die Einschränkung der freiheitlichen Grundrechte auf eine gewisse Zeit zu rechtfertigen. Allerdings müssen die Beschränkungen stets im Verhältnis zur entsprechenden Bedrohungslage stehen. Persönlich sehe ich dieses Verhältnis mit Blick auf die Meinung entsprechender Fachwissenschaftler gegeben und betrachte die sehr schnell voranschreitenden Lockerungen kritisch, da sie unerwünschte Nebenwirkungen haben können.

Wichtig ist an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass ich keine wirtschaftlichen Aspekte in diesem Artikel berücksichtigt habe und auch nicht berücksichtigen möchte. Das Abwägen von wirtschaftlichen Wohlstand und Menschenleben, eine Überlegung, auf die die Kritik an der zustande kommenden Rezession hinausläuft, stellt einen erheblichen Eingriff in die Würde des Menschen dar. Diese Gedanken kann man nur mit einer zutiefst ethisch-philosophischen Überlegung lösen, die an dieser Stelle zu weit führen würde. Für alle Liebhaber der Wirtschaft sei allerdings gesagt, dass auch ihr euch nicht über verfrühte Lockerungen freuen solltet. Eine zweite Welle mit neuem Lockdown würde erhebliche Mehrkosten im Vergleich zum längeren Aussitzen der Pandemie verursachen.


Quellenverzeichnis

[1] Grundrechte | bpb

[2] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2

1 Gedanke zu „Ist die Einschränkung unserer Grundrechte in der Coronakrise zu rechtfertigen?“

  1. Volle Zustimmung meinerseits. Wer sich durch die bisherigen Maßnahmen in seinem Grundrechten „zu“ stark eingeschränkt fühlt sollte erstmal Vergleiche zu den Einschränkungen und auch Opfern in anderen Ländern ansehen.

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